Havelberger Dialoge – Ostdeutsche Identitäten – Sommer 2024
7. Mai – 28. Mai/ 27. August Havelberger Dialoge
Kommt, reden wir zusammen, wer redet, ist nicht tot!
So sagt es der in einem Prignitzer Pfarrhaus geborene Arzt und Dichter Gott-fried Benn. Die „Havelberger Dialoge“ sollen dies befördern.
Das Reden miteinander ist in der Tat etwas schwieriger, wir glauben aber, nicht unmöglich geworden. Das haben die
Veranstaltungsreihen der Havel-berger Dialoge zu den Themen: Judentum, Frieden und Krieg, Islam und jüdi-sches Leben in der DDR im vergangenen Jahr gezeigt. Und so konnten wir zu diesen Gesprächen über 800 Interessierte erreichen. Die gute Resonanz der vergangenen beiden Jahre macht Mut, die Dialogreihe fortzusetzen. Fast scheint es, als seien die Havelberger Dialoge schon eine eigene Institution.
In diesem Jahr wagen wir uns an einen neuen Schwerpunkt:
Was macht den Ossi zum Ossi?
Ostdeutsche Identität(en) – was ist das und wenn ja, wie viele?
Ostdeutschen wird ein besonderes Spezifikum zugesprochen. Irgendwie sind sie anders. Sie meckern, wählen AfD, sind in keinen Führungspositionen, sie jammern, sind durch die Diktatur geschädigt, kritikunfähig usw.
Spätestens seit dem Bestseller von Dirk Oschmann: Der Osten: Eine west-deutsche Erfindung ist das Anderssein des Ossis in aller Munde. Auch oder gerade nach über 30 Jahren denken wir stark in Kategorien von Ost- und Westdeutschland. Der Ossi und der Wessi sind zwar irgendwie miteinander verwandt, aber doch zwei verschiedene Wesen. Interessanterweise haben sich diese Wesen erst nach 1990 herausgebildet.
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, stellte in einem Interview mit der Berliner Zeitung fest: „Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir uns zu DDR-Zeiten als Ostdeutsche definiert haben. Im Gegenteil: Wir haben uns immer als Deutsche verstanden. Eine ostdeutsche Identität gab es erst nach der DDR. Die gemeinsamen Erlebnisse von Benachteiligung und fehlender Wertschätzung haben sie geschaffen. Nicht bei allen – aber wenn 80 Prozent der Berufsaktiven ihren Job verlieren, wenn sie wieder auf die Schulbank müssen, weil ihre Berufe nicht mehr anerkannt werden, hat das Folgen für jede Gesellschaft.“
Die Wahlen in diesem und dem kommenden Jahr in den Bundesländern Thüringen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt sind der Anlass, über dieses Thema nachzudenken und ins Gespräch zu kommen. So konnten wir wieder einmal herausragende Referenten für Havelberg gewinnen.
7. Mai um 19.00 Uhr
Paradiessaal des Doms zu Havelberg
Christoph Dieckmann – Vortrag und Gespräch
Christoph Dieckmann ist Journalist bei der Wochenzeitung DIE ZEIT und freier Autor. Die Liste seiner Veröffentlichungen ist lang. Geboren in einem protestantischen Pfarrhaus in Rathenow, wuchs er in Sangerhausen auf, und wie, so vielen Pfarrerskindern, wurde ihm die Zulassung zum Abitur verweigert. So begann er eine Lehre als Filmvorführer, wurde jedoch kurz vor dem Abschluss aus disziplinarischen Gründen der Schule verwiesen. So studierte er Theologie an der kirchlichen Hochschule in Leipzig und Berlin, machte sein Vikariat in Berlin und schrieb dann für Kirchenzeitungen in der DDR und der Wochenzeitung „Der Sonntag“. Seit 1991 ist er Mitarbeiter bei der Wochenzeitung DIE ZEIT. Dort war er jahrelang der einzige ostdeutsche Redakteur. Für viele Leser im Osten ist er zu einer Identifikationsfigur geworden. Für sei-ne Texte erhielt er mehrere Auszeichnungen, etwa 1994 den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Sein jüngstes Buch „Woher sind wir geboren“ erschien kürzlich im Ch. Links Verlag.
14. Mai um 19.00 Uhr
Paradiessaal des Doms zu Havelberg
Marianne Birthler – Vortrag und Gespräch
Mit Marianne Birthler konnten wir einen Gast gewinnen, der kaum vorgestellt werden braucht, schließlich hieß eine ganze Behörde nach ihr. Der „Gauck Behörde“ folgte die „Birthler Behörde“. Marianne Birthler, geboren in Ostberlin, begann im DDR-Außenhandel, absolvierte eine gemeindepädagogische Ausbildung und wurde Katechetin in der Elias-Gemeinde in Berlin Prenzlauer Berg, in dieser Zeit begann sie sich in der oppositionellen Bewegung in der DDR zu engagieren, vor allem in der Initiative Frieden und Menschenrechte. Sie war Abgeordnete der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR. Im Oktober 1990 wurde sie in den Landtag Brandenburgs gewählt und kurz drauf Ministerin für Bildung, Jugend und Sport für Bündnis 90. 1992 trat sie von ihrem Amt wegen der Stasiverstrickungen von Manfred Stolpe zurück. Von September 2000 bis 2011 war sie die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Sie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse und Großen Verdienstkreuzes mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Zudem war sie viele Jahre Präsidiumsmitglied des Deutschen Evangelischen Kirchentages.
Neuer Termin Dienstag, 27. August um 19.00 Uhr
Paradiessaal des Doms zu Havelberg
Ilko Sascha Kowalczuk – Vortrag und Gespräch
Der ursprünglich am 28. Mai vorgesehene Termin musste abgesagt werden, jetzt bekommt die Dialog-Reihe ihre Fortsetzung im August.
Ilko Sascha Kowalczuk ist deutscher Historiker und Publizist mit Schwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur. 1967 geboren, wuchs er in Berlin-Friedrichshagen auf. Kowalczuk absolvierte von 1983 bis 1985 eine Ausbildung zum Baufacharbeiter und arbeitete bis 1988 als Pförtner. 1988 machte er Abitur auf einer Abendschule und studierte von 1990 bis 1995 Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, wurde 2002 in diesem Fach promoviert.
Seit der Gründung des Unabhängigen Historikerverbandes, 1990, ist er dessen Mitglied. Von 1995 bis 1998 war er ehrenamtliches sachverständiges Mitglied in der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ des Deutschen Bundestages. Seit 2001 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter in der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Im Frühjahr 2018 wurde er beurlaubt, um eine Biographie über Walter Ulbricht zu schreiben. Diese wurde in zwei Bänden 2023 und 2024 veröffentlicht. Im Frühjahr 2019 berief ihn die Bundesregierung in die Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“. Ilko Kowalczuk ist ein enorm produktiver Autor und Historiker, der zu vielen zeithistorischen Themen und zu Fragen der Aufarbeitung der SED-Diktatur klare Stellung bezieht. Er berät seit 1999 zahlreiche Spiel- und Dokumentarfilme mit zeitgeschichtlichen Themen, darunter beispielsweise die erfolgreichen und vielfach preisgekrönten TV-Serien Weissensee, Tannbach – Schicksal eines Dorfes, Unsere wunderbaren Jahre und viele andere.
Sein Buch „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“, von 2019, erlebt im C.H. Beck Verlag viele Auflagen. Ilko Sascha Kowalczuk bezieht Stellung, mischt sich ein, spricht eine klare und wenig akademische Sprache und ist daher bestens als Vortragender und Dialogpartner geeignet.